Die Kerze, die nicht brennen wollte
Nein, das hatte es noch nicht gegeben.
Eine Kerze, die nicht brennen wollte, war absolut einmalig.
Es herrschte große Aufregung unter den Kerzen im
Wohnzimmer – zumal bald Weihnachten
gefeiert werden sollte und die Kerzen mit ihrem festlichen
Glanz die Dunkelheit verwandeln wollten.
Eine alte, erfahrene Kerze bot sich an, mit der kleinen zu reden.
„Nein, ich möchte nicht brennen“,antwortete die Kleine störrisch.
„Wer brennt, verbrennt recht bald, und dann ist es um ihn
geschehen.
Ich möchte bleiben, wie ich bin –so schlank, so schön und so
elegant.“
„Wenn du nicht brennst, bist du tot, noch bevor du gelebt hast“,
antwortete die Alte gelassen.
„Dann bleibst du auf ewig Wachs und Docht, und Wachs und
Docht sind nichts.
Nur wenn du dich entzünden lässt, wirst du, was du
wirklich bist.“
„Na, da danke ich schön“, entgegnete die Kleine
ängstlich.
„Ich möchte mich nicht verlieren, ich möchte lieber
bleiben, was ich jetzt bin. Gut, es ist etwas langweilig und
manchmal etwas dunkel und kalt, aber es tut noch lange nicht
so weh wie die verzehrende flackernde Flamme.“
„Man kann es eigentlich nicht mit Worten erklären, man muss es
erfahren“, antwortete die Alte rätselhaft.
„Nur wer sich hergibt, verwandelt die Welt, und indem er die
Welt verwandelt, wird er auch mehr er selbst.
Du darfst nicht über das Dunkel und die Kälte klagen, wenn
du nicht bereit bist, dich anstecken zu lassen.“
Da ging der kleinen Kerze plötzlich ein Licht auf.
„Du meinst, man ist das, was man von sich herschenkt?“
„Ja“, antwortete die Alte.
„Man bleibt dabei nicht so schlank, so schön und elegant.
Man wird gebraucht und gerät auch etwas aus der Form.
Aber man ist mächtiger als jede Nacht und alle Finsternis in der
Welt.“
So geschah es, dass die kleine Kerze ihren Widerstand
aufgab und sich entzünden ließ.
Je mehr sie flackerte, umso mehr verwandelte sie sich in reines
Licht und leuchtete und strahlte, als gelte es die ganze Welt
zu wärmen und alle Nächte hell zu machen. Wachs und
Docht verzehrten sich, aber ihr Licht leuchtet bis auf den
heutigen Tag in den Augen und Herzen all der Menschen,
für die sie brannte.
aus: „ Es ist für uns eine Zeit angekommen“,
Hausbuch für die Advents- und Weihnachtszeit